Es hieß, die Insel Cericho existiere nur in Sagen. Sie war nicht auf Karten eingezeichnet, und niemand konnte sagen, wie man dorthin gelangen konnte. Doch jene, die davon sprachen, beschrieben sie als einen Ort, an dem man vor der Welt sicher war – und vor den Menschen, die einen verletzen konnten.
Für Mira war das genau der Ort, den sie brauchte. Sie war es leid, immer verletzt und enttäuscht zu werden, immer zwischen Liebe und Schmerz zu schwanken. Beziehungen hatten sie erschöpft, und selbst die Freundschaften, die sie einst geschätzt hatte, fühlten sich inzwischen wie ein Netz an, aus dem sie nicht entkommen konnte.
Eines Abends spazierte sie bis zum Hafen. Sie setzte sich an den Pier und bemerkte wie eine Gruppe alter Frauen neben ihr begann von der alten Legende von Cericho zu erzählen, von der Frau mit gebrochenem Herzen die dort endlich Ruhe und Frieden fand. In der Legende brach sie genau hier von diesem Pier auf und ließ ihr Boot nur von ihrer Sehnsucht nach Einsamkeit leiten.
Mira fasste sich ein Herz. Sie mietete ein kleines Boot, fuhr aufs Meer hinaus und ließ sich von den Wellen treiben.
Die See war rau, und Mira wusste nicht, wie viele Tage vergangen waren, als sie schließlich die Insel erreichte. Ein dichter Nebel hatte sie lange verborgen, doch nun tauchten Klippen und weiße Strände aus der grauen Dämmerung auf. Sie zog das Boot an Land und atmete die klare warme Luft ein. Hier würde sie allein sein, endlich frei.
Die ersten Wochen waren paradiesisch. Mira fand frisches Obst, baute sich einen Unterschlupf und verbrachte die Tage damit, den Wind durch die Palmen rauschen zu hören. Es gab keine Stimmen, keine Erwartungen, keine Verletzungen. Sie fühlte sich, als wäre sie endlich angekommen, endlich ganz sie selbst, ganz für sich.
Doch die Einsamkeit, die sie anfangs wie eine sanfte warme Decke umhüllt hatte, begann schwer zu werden. Es war eine Unruhe, ein Bedürfnis das sie nicht genau beschreiben konnte oder verstehen. Nachts lauschte sie dem Meer, aber es gab keine Antworten auf ihre innere Unruhe, nur das monotone Rauschen. Sie erinnerte sich an die Stimmen, die sie so oft gemieden hatte, und merkte, dass sie sie nun vermisste.
Eines Morgens entdeckte sie Spuren im Sand. Es waren Fußabdrücke, frisch und tief, die den Strand entlang führten. Ihr Herz stand einen Moment lang still. War sie nicht allein? Sie folgte den Spuren und fand, hinter einer Reihe von Palmen, einen Mann, der gerade ein Netz reparierte.
„Wer bist du?“ rief sie spontan, bevor sie noch Zeit hatte nachzudenken.
Der Mann sah auf. Er war jung, vielleicht Anfang zwanzig, mit wirren dunklen Haaren und einer ruhigen Ausstrahlung, die Mira sofort als angenehm empfand. „Ich bin Kiran“, sagte er und ließ das Netz sinken. „Und du?“
Mira zögerte. Sie war hergekommen, um allein zu sein, doch nun fühlte sie sich von seiner Präsenz merkwürdig angezogen. „Ich bin Mira“, antwortete sie schließlich nach kurzem Zögern.
„Du bist auch geflüchtet, nicht wahr?“ fragte Kiran, ohne Vorwurf, nur mit leiser Neugier in seiner ruhigen Stimme.
Mira nickte. Sie hätte es geleugnet, aber in seinen Worten lag eine Wahrheit, der sie nicht entkommen konnte.
In den folgenden Tagen begegneten sie einander immer wieder, meist zufällig, während sie die Insel erkundeten. Kiran erzählte wenig von sich, aber genug, dass Mira begriff, er war wie sie – jemand, der sich vor der Welt und den Menschen versteckte. Doch anders als Mira schien er keine Angst davor zu haben, ihr nahe zu kommen.
„Warum redest du mit mir?“ fragte sie eines Tages, als sie gemeinsam am Strand saßen.
Kiran lächelte. „Weil ich glaube, dass wir beide vergessen haben, wie es ist, mit jemandem zu sein, der nichts von uns verlangt.“
Seine Worte blieben bei Mira. Sie begann, ihm zu vertrauen, und erzählte ihm von den Menschen, die sie verletzt hatten, von ihrer Vergangenheit, ihren eigenen Unsicherheiten und der Angst, niemals genug zu sein. Kiran hörte zu, ohne sie zu unterbrechen, und teilte schließlich auch seine eigenen Geschichten mit ihr.
Mit der Zeit wurde die Insel weniger ein Versteck und mehr ein Zuhause. Mira und Kiran bauten eine kleine Hütte zusammen, fischten im Meer und lachten über die Eigenarten der Vögel, die sich in den Palmen niederließen. Mira merkte, dass sie weniger an die Vergangenheit dachte. Die Insel war nicht mehr nur ein Ort, um zu entkommen, sondern einer, an dem sie sich sicher fühlen konnte – zuerst mit sich selbst, dann mit Kiran.
Eines Abends, als die Sterne hell über ihnen funkelten, fragte Kiran: „Was glaubst du, passiert, wenn wir die Insel eines Tages verlassen?“
Mira sah ihn an. Die alte Angst kehrte zurück, aber diesmal war sie nicht überwältigend. „Vielleicht wird es schwer“, sagte sie. „Aber vielleicht schaffen wir es.“
Kiran nickte. „Und bis dahin haben wir diesen Ort.“
Mira lächelte. Zum ersten Mal seit Jahren fühlte sie sich bereit, die Welt wieder zu betreten – wenn auch nicht sofort. Die Insel hatte sie geheilt, aber es war Kiran, der sie daran erinnert hatte, dass man sich auch zu zweit sicher fühlen konnte.
Und in diesem Moment wusste sie, dass sie nicht mehr allein war.