Die Brücken

Liam lebte in einer Stadt, die von tiefen Schluchten durchzogen war. Brücken, die einst die Menschen miteinander verbanden, waren vor Jahren verschwunden. Niemand wusste, warum genau. Man sagte, die Brücken hätten ihre eigenen Gefühle gehabt, und als die Menschen einander nicht mehr vertrauten, seien sie einfach zerfallen.

Die Bewohner der Stadt lebten seither in Isolation, jeder auf seiner eigenen Insel. Kommunikation war nur noch durch weit entfernte Rufe möglich, doch selbst die wurden immer seltener. Alle hatten mehr und mehr das Gefühl sich nicht verständlich machen zu können und auch selbst nicht verstanden zu werden. Die Kluft zwischen den Menschen wuchs, nicht nur physisch, sondern auch emotional.

Liam war schon als Kind fasziniert von den Geschichten der Brücken. Sein Vater hatte ihm erzählt, wie sie früher zusammen mit anderen Familien die Märkte besucht hatten, auf Brücken tanzten und die Verbindungen zwischen den Vierteln lebendig hielten. Doch Liam selbst hatte nie eine Brücke gesehen, außer in alten Skizzenbüchern.

Eines Tages, als er am Rand einer Schlucht saß und in die Tiefe starrte, hörte er ein leises Geräusch. Er drehte sich um und sah ein Mädchen in seinem Alter, das ihn neugierig ansah. Sie trug einen kleinen Beutel am Gürtel, der bei jedem Schritt klirrte.

„Was machst du hier?“ fragte sie.

„Ich denke nach“, antwortete Liam. „Über die Brücken.“

Das Mädchen lächelte schief. „Du glaubst noch an die Brücken?“

„Natürlich“, sagte Liam. „Du nicht?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich habe nie eine gesehen. Aber…“ Sie zog einen kleinen, verzierten Schlüssel aus ihrem Beutel. „Vielleicht kann man sie zurückholen.“

Liam starrte den Schlüssel an. „Was ist das?“

„Man sagt, es gibt Wege, die Brücken neu zu bauen. Aber dazu braucht man Mut – und jemanden, der es auch versucht.“ Sie hielt ihm den Schlüssel hin. „Ich bin May.“

Liam zögerte, dann nahm er den Schlüssel. „Ich bin Liam.“

Sie gingen zu einer Truhe, die der Schlüssel öffnete. In der Truhe fanden sie Seile, Holz, Werkzeug und ein Schild auf dem stand „Um Brücken zu bauen und zueinander zu finden, braucht es zwei, die gemeinsam den ersten Schritt wagen.“ 

Obwohl sie beide große Angst hatten zu versagen und einander zu enttäuschen beschlossen May und Liam es zu versuchen. Sie erforschten die Schluchten, kletterten über schmale Felsen und suchten nach alten Fundamenten. Bald stellten sie fest, dass das Bauen einer Brücke nicht so einfach war, wie es in den Geschichten klang.

Eines Nachts saßen sie an einem Lagerfeuer und redeten über ihre Ängste. Liam erzählte von der Einsamkeit, die ihn seit dem Tod seiner Eltern verfolgt hatte, und wie er sich schämte, andere um Hilfe zu bitten. May sprach davon, wie sie immer das Gefühl hatte, nicht genug zu sein, und sich deshalb immer von anderen fernhielt.

„Vielleicht ist das der Grund, warum die Brücken verschwunden sind“, sagte May leise. „Weil wir alle Angst haben, uns verletzbar zu zeigen.“

Liam nickte. „Aber wenn wir nie versuchen, eine Verbindung zu schaffen, bleiben wir für immer allein.“

Am nächsten Tag fanden sie eine Stelle, an der die Fundamente einer alten Brücke noch intakt waren. Sie begannen, das Material zu sammeln – Holz, Seile, Nägel – und arbeiteten tagein, tagaus. Es war mühsam, und manchmal stritten sie sich, doch sie gaben nicht auf.

Mit jedem Stück, das sie zusammenfügten, wuchs die Brücke. Doch etwas fehlte noch. Sie merkten, dass die Brücke nur dann halten würde, wenn sie ihre eigenen Ängste überwanden.

„Wir müssen einander vertrauen“, sagte May.

Liam sah sie an. Er wusste, dass sie recht hatte, aber die Angst war wie ein Knoten in seiner Brust. Schließlich reichte er ihr die Hand. „Ich vertraue dir.“

May legte ihre Hand auf Liams Brust und spürte seinen Herzschlag, und in dem Moment begann die Brücke zu leuchten. Unsichtbare Fäden schienen zwischen ihnen zu entstehen, strahlend und stark, und sie verbanden die beiden Seiten der Schlucht.

Als die Brücke schließlich fertig war, waren sie erschöpft, aber glücklich. Sie überquerten sie zusammen, Schritt für Schritt, und als sie auf der anderen Seite ankamen, sahen sie, dass andere Menschen am Rand der Schluchten standen, ihnen zusahen – und vielleicht, bereit waren, es ebenfalls zu versuchen.

Die Brücke war nicht perfekt, aber sie hielt. Und für Liam und May war das der Beweis, dass Verbindungen möglich waren, wenn man den Mut fand, sich verletzlich zu zeigen und einander zu vertrauen.